"Pieces of a Woman": Eine Liebe fällt in Stücke (2024)

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Die ersten 20 Minuten dieses Films gleichen einem Hochseilakt: Einerseits ist da die verführerische Euphorie eines Neubeginns, andererseits die Angst vor dem Absturz, der jeden Moment droht. Es geht um eine Geburt, genauer gesagt um eine Hausgeburt. Und um ein Stück Film, gedreht in einer einzigen Einstellung. Die Schauspieler Vanessa Kirby und Shia LaBeouf verkörpern das Paar Martha und Sean, das sein erstes Kind erwartet. Nach einem kurzen Auftakt, der die beiden als ungleiche, aber sich innig zugetane Partner vorstellt, kommt der Kraftakt, gefilmt als wäre es eine Live-Performance. Es sind 20 Minuten Kino, die man nicht so leicht vergisst.

Eben noch tauschen Sean und Martha Zärtlichkeiten aus im gemütlichen kleinen Vorstadtzuhause, dann platzt ihre Fruchtblase, es kommen die Wehen und die Nervosität steigt. Sean ist ganz der liebevolle Gatte, der versucht, alles richtig zu machen: beruhigen, ein Bad einlassen, streicheln, mitatmen, die Hebamme anrufen. Nur ist die, die eingeplant war, gerade woanders. Aber kein Grund zur Panik, für Ersatz ist gesorgt. Und Eva (Molly Parker) ist ausgesprochen schnell zur Stelle und scheint eine sehr sympathische und kompetente Person zu sein. Für ausführliches Sichkennenlernen ist sowieso keine Zeit, die Geburt des Babys drängt und gibt den Rhythmus vor. Martha ist außerdem ganz mit sich und ihrem Körper beschäftigt. Eva misst die Herztöne des noch ungeborenen Babys, spielt souverän eine gewisse Besorgnis herunter, gibt Anweisungen mal an Martha, mal an Sean, misst wieder, weist Sean an, im Krankenhaus anzurufen. Fast unmerklich verändert sich die Stimmung. Wo gerade noch Hektik herrschte, erwartungsfrohe Aufregung, zieht Verhaltenheit und Zögern ein. Mit zunehmender Ruhe aber wächst der Schrecken. Die Verzweiflung kann da zunächst gar nicht Schritt halten.

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So flüssig, unmittelbar, distanzlos ist diese Sequenz gespielt und gefilmt, dass man als Zuschauer danach eine Weile braucht, bis man voll erfasst hat, was geschehen ist. Es ist ein Effekt, der zusätzliche Nähe schafft zu den Figuren, denen es im Grunde ähnlich geht. Auch sie ringen für den Rest des Films darum, das soeben Passierte zu begreifen und zu verarbeiten. Herkömmlich gesehen setzt die Handlung sogar erst mit dem Danach ein: Pieces of a Woman ist ein Film über Trauer und was sie mit den Menschen macht. Das ungleiche, aber glückliche Paar, das man in den ersten Bildern noch sieht, gibt es danach nicht mehr. An die Stelle treten zwei Individuen, die von dieser gemeinsamen Erfahrung nicht zusammengeschweißt, sondern regelrecht auseinandergetrieben werden. Der Filmplot mit seinen Intrigen um eine übergriffige Mutter (Ellen Burstyn) und eine zynische Rechtsanwältin (Sarah Snook) tut sein Übriges dazu.

Auch der Zuschauer kommt nicht drüber hinweg

Ein weiteres Gefühl teilen der Zuschauer und die Zuschauerin mit den Figuren: Man kommt über die ersten 20 Minuten nie mehr wirklich hinweg. Auf der einen Seite liegt darin ein Kompliment an die Filmemacher, sowohl an den ungarischen Arthouse-Regisseur Kornél Mundruzcó, der hier sein englischsprachiges Debüt vorlegt, als auch an die Drehbuchautorin Kata Wéber. Und natürlich an die beiden Darsteller, die hier jene perfekte Gratwanderung zwischen Dramatik und Understatement hinbekommen, die man als vollkommene Natürlichkeit wahrnimmt. Tatsächlich bemerkt man erst im Nachhinein, wie viel Kunst und eben auch Künstlichkeit in dieser einen Einstellung liegen. Welche Feinstarbeit die Kamera (Benjamin Loeb) leistet und wie perfekt das Timing der Szene ist. Und wie reich an Details sie trotzdem daherkommt: Fast alles, was man über die Figuren Sean und Martha im Film je erfahren wird, ist in der Sequenz schon enthalten.

Auf der anderen Seite führt diese großartige Sequenz eben zwangsläufig zu einem Abfall. Nichts, was sich danach ereignet, ist filmisch je wieder so interessant. Die Handlung um die Klage, die gegen die Hebamme angestrengt wird, wirkt eher aufgepfropft als organisch entwickelt. Die Risse in der Beziehung zwischen Martha und Sean, die sich nach und nach zu Gräben ausweiten, sind absehbar und aus anderen Filmen weitestgehend vertraut. Und selbst die große Ellen Burstyn, die als Marthas Mutter ihre strafende Arroganz über den nicht standesgemäßen Sean ausschütten darf, kann hinter einem eindrucksvollen Auftritt nicht ganz verbergen, dass die Instrumentalisierung ihrer Figur als Holocaust-Überlebende falsch tönt.

Dennoch gibt es eine große Entdeckung in diesem Film zu machen: die Schauspielerin Vanessa Kirby, die nach der Premiere von Pieces of a Woman in Venedig im vergangenen Jahr auch den Preis als beste Darstellerin erhielt. Kirby hat bereits glamourösere Auftritte hingelegt: Gegenüber Tom Cruise gab sie im letzten Mission Impossible-Film (2018) eine Waffenhändlerin namens White Widow; den Serienguckern hat sie sich als noch junge Prinzessin Margaret neben Claire Foys Elizabeth II. in The Crown eingeprägt. In Pieces of a Woman aber bekommt sie Gelegenheit, eine Figur ohne Fassade von Coolness oder Hoheit zu spielen. Dabei trägt sie nicht etwa dicker auf, im Gegenteil: Sie verleiht ihrer Martha eine grundsätzliche Beherrschtheit – und macht sie so viel interessanter. Ihre Martha erweist sich als eine Frau, die ihre Emotionen nie überflüssig nach außen trägt – was nicht bedeutet, dass sie nicht selbst unter deren Wucht fast zerbricht. Die Gratwanderung zwischen Euphorie und Absturz, die am Anfang von Pieces of a Woman so fesselt, setzt Kirby in ihrer Figur auf stille Weise fort. Allein ihretwegen lohnt sich der Film.

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